Sonntag, 27. August 2017

Randgruppenkonfrontation

Wer meine letzten Eintraege verfolgt hat, dem ist vielleicht aufgefallen, dass ich bereits erste Anzeichen von massiver Ueberforderung gezeigt habe. Jeden Tag neue Orte, neue Menschen, Unterhaltungen in Deutsch/Englisch/Portugisisch/Spanisch und mein inneres Verlangen alles aufzusaugen, zu reflektieren, zu analysieren und mein Bild das ich von der Welt, von mir und ueberhaupt allem habe, wieder in ein grosses Ganzes zu setzen.

So wache ich am Freitag, 11. August genervt von Papageiengeschrei auf und das einzige das mir durch den Kopf huscht ist, dass ich nun bereits seit 2 Wochen in Brasilien bin und ueberhaupt seit 12. Juli nicht mehr wirklich ZUHAUSE in Wien war. Ich sehne mich massiv nach meiner Liebe, meiner Familie, meinen Freunden, meinem Zuhause, meinen Bastelprojekten und Ideen zur Weltverbesserung und wuerde mich am liebsten in meinem Klosterzimmer verbarikartieren, nichts und niemanden sehen wollen...

Ich steige dennoch in unseren Touri-Bus, mit unserem stets schlecht gelaunten Busfahrer. Das Programm wurde vorab auch nicht von mir gecheckt um meinen Ueberforderungsgrad nicht noch mehr herauszufordern und lasse mich wieder ueber unbefestigte, rot-erdige Pisten ins nirgendwo kutschieren. Bis wir ganz unvermittelt neben einem, von hohen Graesern und Stacheldraht umzaeuhnten Gelaende stehen bleiben, auf welchem sich ein Gebaeude mit der Aufschrift 'Terapeutica Paraiso' befindet. Und hier eroeffnet sich mir unser heutiger Programmpunkt - wir sind in einer Entzugsklinik fuer Alkoholkranke und Abhaengige von chemischen Drogen - eines der Projekte welches von Padre Geraldo unterstuetz wird, da es sich wieder um eine Randgruppenproblematik handelt.

Entzugsanstalt 'Paraiso' im Nirgendwo

Ich bin zu Beginn einfach nur entsetzt! Wie kann man Menschen nur so etwas zumuten? Ganz fern der Zivilisation fuehlt es sich hier fuer mich an, als ob man die Randgruppenproblematik tatsaechlich einfach an den Rand der Gesellschaft ins Nirgendwo verlegt, um es als Nicht-Betroffener nicht tagtaeglich sehen zu muessen. Die Personen die hier zum Entzug sind, sind freiwillig hier - fuer 9 Monate. Aber ich fuehle mich als waere ich gerade in meinem Bus zu Jurrassic-Parc kutschiert worden um dort die menschlichen Abgruende bewundern zu koennen.

Wir machen ein gemeinsames Vernetzungs/Austauschseminar mit den Klienten um ihre Motivation fuer den Entzug zu ergruenden, spazieren gemeinsam durch die parkaehnliche Anlage, streicheln Hundebabies... aber in meinem Kopf geht es Rund.

Denn langsam verstehe ich die Abgeschiedenheit. Es geht darum fernab von den tagtaeglichen Herausforderungen des Lebens, aber auch von den Konsumquellen, wieder vertrauen ins eigene ICH zu finden. Die Moeglichkeit zu bekommen, den eigenen Lebensweg zu sehen, ohne in Kummer und Sorge zu ertrinken bzw versuchen diese zu betaeuben.

Der Gedanke das man immer dann im Leben mit einer Herausforderung konfrontiert wird, wenn das Schicksal glaubt, dass es gerade fuer einen ertragbar ist, schiesst mir in den Kopf, sowie die Fragen aus unserem ersten Seminar in der Vila da Poetas (das sich anfuehlt als ob es in einem anderen Leben stattgefunden haette).

Von wo komme ich her? 
Wo befinde ich mich gerade?
Wo moeche ich hin? 

Diese Fragen stellen sich die Klienten hier wohl auch - unser gemeinsamer Nenner?

Denn diese Reise fuehlt sich auch ganz oft so fuer mich an, als ob ich mich freiwillig ins Exil verfrachtet haette. Ich bin nicht (nur) in Brasilien die Schoenheit der Landschaft oder die Liebenswuerdigkeit der Menschen zu geniessen, sondern habe mich auch irgendwie hierher begeben um Fragen in meinem Inneren zu beantworten. Jede physische Reise, stellt auch eine mentale Reise dar und das Programm der letzten Tage, aber vorallem heute konfrontiert mich massiv damit.

Denn wo komme ich her? Aus einem super-gestresstem Umfeld, wobei ich mir selber den Stress mache, da meine eigene Messlatte so hoch liegt und ich stets fuer alle da sein moechte.
Wo befinde ich mich gerade? Irgendwie an einer emotionallen Klippe, mit dem Gefuehl ganz dringend etwas aendern zu wollen um nicht vollauf aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Wo moechte ich hin? Weg von dem Gefuehl fluechten zu muessen, weil mir alles zu viel wird. Hin zu dem Punkt wo ich mir und anderen Grenzen stecke.

Diese Reise beruehrt tatsaechlich jede Facette meines Ichs und vielleich schaffe ich es ja diesmal einen Schritt naeher an innere Zufriedenheit zu gelangen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen